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# 9 In Ketten

„Ich kann nicht mitkommen.“
Meine Hand um die Türklinke lockert sich und ich starre ihn entgeistert an. „Wie meinst du das?“
Er lächelt gequält. „So, wie ich es sage. Ich kann nicht durch die Tür gehen.“
Nun lasse ich endgültig von der Klinke ab und wende mich meinem Gesprächspartner zu.
„Warum nicht? Was weißt du über diesen Ort, was ich nicht weiß?“
Ich spüre, wie sich meine Augen zu Schlitzen verengen. Irgendetwas stimmt hier nicht.
Er hält meinem Blick stand.
„Ich weiß nicht mehr als du. Nur, dass ich dort nicht reingehen kann.“
„Aber was, wenn das der Ausgang ist? Wie kannst du etwas wissen und gleichzeitig nichts wissen? Du lügst doch.“
Das hat gesessen. Sein Oberkörper sackt zusammen. Es trifft ihn immer, wenn ich ihn als Lügner bezeichne. Was absurd ist, weil er selbst weiß, dass alles was wir waren auf Lügen basiert.
Ich schaue hoch zu meinem Stimmenlicht. „Du lässt mich wahrscheinlich auch wieder hängen, oder?“
Die kleine Lichtkugel hält seit der Ankunft des Lügners Abstand von uns. Oder von ihm. Da bin ich mir nicht ganz sicher.
Als Antwort auf meine Frage, wird sein rotes Leuchten etwas dunkler. Fast als wäre es traurig.
Ich muss schlucken. Also ich allein – wie immer.
Dann drücke ich die Klinke der Tür hinunter und betrete den Raum.

Wieder umschließt mich ein Luftsog und zieht meinen dünnen Körper in das Zimmer. Die Tür fällt hinter mir zu.
Es ist warm. Meine Füße stehen in einem alten, abgetretenen Teppich. Den gelben Senffleck vor meinem großen Zeh erkenne ich sofort. Ich befinde mich im Wohnzimmer meines Elternhauses.
Unweigerlich drehe ich meinen Kopf nach links. Dort ist der Durchbruch zur Küche. Die Küche hat eine Tür in den Garten. Von dort aus sind es zehn Gehminuten zur Bushaltestelle. Der Bus braucht dreißig Minuten zum Bahnhof. Von da könnte ich in vier Stunden mit dem Zug bei mir zuhause sein.
Doch anstelle der Küche klafft hinter dem Durchgang nur ein schwarzes Loch.
Das ist nicht echt.

Aus meinem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. In der hinteren linken Zimmerecke ist eine Steppdecke ausgelegt. Direkt vor dem Heizkörper unter den zugezogenen Fenstern. Die langen Vorhänge liegen auf dem Stoff der Decke auf. Auf ihr wiederum sitzt ein Mädchen, das seinen Rücken an die warme Heizung lehnt. Auf ihrem Schoß hat sie eine kleine Puppe und in ihren Händen ein Kinderbuch. Es wirkt fast, als würde sie ihrer Puppe vorlesen.
Ich gehe ein paar Schritte auf das Mädchen zu. Mein Herz rast und meine Zunge klebt vertrocknet an meinem Gaumen. Das kann nicht sein.
Ich gehe in die Knie und schaue in ihr Gesicht. Bin ihr so nah, dass ich jede Sommersprosse auf ihrer Nase erkennen kann. Bin mir so nah.
„Hallo?“ Meine Stimme ist rau und kratzig.
Das Mädchen reagiert nicht.
Sanft lege ich meine zitternde Hand auf die obere Kante ihres Buches und drücke es nach unten.
Ihr Kopf hebt sich und ihr Blick bewegt sich von den Buchstaben hin zu mir. Große, trübe Kinderaugen schauen geradewegs durch mich hindurch. Sie blinzelt manchmal, doch ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich überhaupt erkennt.
Plötzlich höre ich eine Männerstimme hinter mir.

„…ereignete sich ein schwerer Autounfall. Die sechzehnjährige Fahrerin erlag noch am Unfallort ihren schweren Verletzungen. Die Polizei geht aktuell von einem Suizid aus…“

Meine Ohren beginnen zu klingeln. Wie in Trance folgt mein Blick dem des Mädchens vor mir. Erst jetzt nehme ich die zwei Gestalten auf der Couch vor dem Fernseher wahr. Sie starren auf die Mattscheibe.
Dem Mädchen rollen Tränen über die Wangen und sie quetscht die Hand ihrer kleinen Puppe.
Ein Ruck durchfährt mich. Ich stehe auf und laufe auf die Erwachsenen zu.
Als ich um das Sofa herumgehe und ihre Gesichter erkenne, geben meine Knie nach. Im Fallen greift meine Hand nach der meines Vaters. Sie ist klebrig und ein glänzender Film liegt auf seinem Ehering.
„Papa?“
Er reagiert nicht.
Ich ziehe mich an ihm hoch. Rüttle ihn. Greife an die Schultern meiner Mutter.
Sie reagieren einfach nicht. Ihr leerer Blick gehört nur dem Fernseher.
„Mama? Papa? Bitte! Ihr müsst euch um sie kümmern!“
Ich deute auf das Mädchen, das mit der Puppe im Arm vor und zurück schaukelt.
Meine Hand packt das Gesicht meiner Mutter und dreht es am Kinn zu mir. Sie sieht einfach durch mich hindurch.
„Du musst jetzt etwas tun! Du musst mit ihr reden!“
Keine Reaktion. Es knallt, als ich ihr eine Ohrfeige versetze und meine Stimme überschlägt sich.
„Sieh‘ mich gefälligst an!“

Der Fernseher geht aus.
„Mina?“
Ich drehe mich nach der leisen Stimme des Mädchens um. Sie sieht mich an. Tränen laufen.
Ihre Hand ist ausgestreckt und hält mir eine feingliedrige, silberne Kette entgegen.
„Die sollst du haben.“
Ich greife nach ihr und alles beginnt sich zu drehen. Meine Knie geben wieder nach. Die Kette fest umklammernd, robbe ich zur Tür.

Das Erste, das ich sehe, als ich sie aufstoße, ist sein Gesicht.
Ich falle in seine Arme. Weine.
Es ist so warm. Das Abschiedsgeschenk meiner sechzehnjährigen Schwester brennt sich in meine Hand. Es dürfte gar nicht mehr existieren. Nichts hier dürfte existieren.
„Alles wird gut, Süße. Ich bin da.“
Ich gebe mich der Umarmung hin. Nur ganz hinten in meinem Kopf pocht die Frage, ob ich dazu verdammt bin, immer wieder dieselben Fehler zu machen.

2 Antworten auf „# 9 In Ketten“

Es gibt Genüsse auf dieser Welt, die man ungern teilt. Wo man dankbar ist, dass man allein ist oder höchstens mit ein, zwei Freunden zusammen. Zum Beispiel beim Wandern durch tiefe, stille Wälder oder beim Essen eines phantastisch gekochten Gerichtes. Ich genieße es auch zuweilen, eine Lieblingsserie zu haben, die sonst keiner kennt.
Mit den Tunnelgängerinnen Geschichten verhält es sich anders. Wie sehr wünschte ich mir, dass viel mehr Menschen in den Genuss dieser Literatur kämen. Denn diese Geschichte ist einzigartig, sie sticht aus der Menge hervor.
Ich hoffe sehr darauf, dass aus dieser Story irgendwann ein Buch wird, und die Verlage der Autorin die Bude einrennen. Verdient hätte sie es.

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