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# 10 Existenz

Schweigend starre ich die die leichte, silberne Kette in meiner Hand an, während wir weiter durch den Tunnel gehen. Je nachdem in welchem Winkel ich meine Hand halte, scheint sie durch das Leuchten meines Stimmenlichts mal gold und mal rot zu sein.
Ich kenne dieses Farbenspiel ganz genau, hatte die Kette doch jahrelang den schlanken Hals meiner großen Schwester geziert.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken und ich kneife die Augen zusammen, um den Bildern, die sich aus den Tiefen meiner Erinnerung in mein Bewusstsein kämpfen, Einhalt zu gebieten.
Ich spüre seine Nähe hinter mir und weiß, dass er die Veränderungen in meinem Gesicht registriert. Dass es mich nur ein Wort kostet, mich wieder in seinen Armen verkriechen und alles andere vergessen zu können. Ich weiß auch, wie falsch das wäre.
Wenn ich seine „Süße“ bin, dann bin ich die beschütze, kleine, schwache, hilflose Frau.
Ja, ich bin in Sicherheit – solange er da ist.
Und ich bin es so leid, dass gebrochene, hilfsbedürftige Mädchen zu sein.

Bin ich dazu verdammt, immer wieder dieselben Fehler zu machen?
Ich würde diese Frage so gerne mit „Nein“ beantworten. Und dann sehe ich mich zusammengekauert auf den Fliesen liegen. Ist das die Alternative? Ist es das, was von mir übrig bleibt? Habe ich mich so lange von anderen definieren lassen, dass ich ohne ihre Schablonen, Schubladen und Korsetts zusammensacke wie eine unförmige Masse?
Wer bin ich?

Meine rechte Hand schmerzt. Ich muss sie in Gedanken um die Kette verkrampft haben.
Als ich die Faust öffne, ziehen sich tiefe rote Striemen über die dünne Haut.
Die Bilder drängen wieder gegen die Luke meines Unterbewusstseins. Ich lasse sie frei. Sehe die Kette, wie sie über die Brüstung einer Brücke fliegt. Sie verschwindet im Dunst leichten Sprühregens und nur ein leises Platschen zeugt davon, dass sie den Wasserspiegel des Flusses durchbricht und ihre Reise zu dessen Grund antritt.
Das war zwei Tage nach Leahs Tod. Sie hatte sie mir am Vorabend ihres Unfalls geschenkt.
Die sollst du haben.
Ich wollte ihr Abschiedsgeschenk nicht. Ich wollte diesen Abschied nicht.
Ich war zehn und sie hatte mich allein gelassen. Sie hatte sich umgebracht.
Ich war die Letzte, mit der sie davor gesprochen hatte. Ich war die Letzte, die ihr in die Augen geschaut hatte.
Ich hätte es wissen müssen.

Seine Hand an meiner Schulter reißt mich aus den Gedanken.
„Mina, weinst du?“
Ich wische mir mit dem Handrücken über die Wangen. Er breitet die Arme aus, doch ich schüttle den Kopf.
Sein Blick verrät Verletzung, doch er artikuliert sie nicht. Stattdessen zeigt er auf die Wand zu unserer Linken.
„Da ist wieder eine Tür.“

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