Wir laufen lange. Ich habe mein Zeitgefühl verloren und die Wände des Tunnels lassen keine Rückschlüsse auf unsere Position zu. Es sind immer dieselben Farben, dieselben Steine und derselbe Fluss des Wassers.
Alleingelassen in dieser Monotonie der Sinne, rasen meine Gedanken. Gespräche laufen vor meinem inneren Auge ab, ich durchdenke jeden Fehler, den ich gemacht habe. Zwischendurch glaube ich, meine Mutter sprechen zu hören. Doch sie ist nicht hier. Ich bin allein.
Immer weiter laufend, versuche ich meine Gedanken auf das hier und jetzt zu lenken. Ich verspüre weder Hunger, noch Durst, noch Harndrang. Mir ist kalt und meine Beine schmerzen, aber ich kann mir nicht vorstellen zu schlafen. Bin ich tot? Das Gedankenkarussel dreht sich unermüdlich.
Ich sehe zu meinem Stimmenlicht auf, das mir unbeirrbar folgt. Was bist du?
Als ich meinen Blick wieder geradeaus richte, entdecke ich plötzlich eine Veränderung und bleibe abrupt stehen. Der Wasserfall an den Wänden ist an der linken Wand des Tunnels unterbrochen. Ein etwa einen Meter breiter Spalt trennt ihn auf. In dieser Lücke befindet sich eine rote Tür.
Ich reibe mir die Augen, um sicherzugehen, dass ich nicht halluziniere. Habe ich den Ausgang gefunden? Ohne großartig darüber nachzudenken, renne ich los und reiße die Tür auf.
Ein Windsog zieht an mir, ich stolpere vorwärts und höre hinter mir die Tür ins Schloss knallen.
Als erstes sehe ich die unglaublich hohe Decke des Raumes, von der mehrere, riesige Kronleuchter baumeln. Sie tauchen alles in ihr goldenes Licht. Ich erstarre, als ich den Blick senke und meine Umgebung als einen barock anmutenden Ballsaal identifiziere. Mein Puls rast und aus allen Winkeln starrt mich mein panisches Gesicht an. Der ganze Raum ist voller Spiegel. Sie stehen in den Ecken, hängen an den Wänden, liegen am Boden… Ich kann meinem Anblick nicht entrinnen.
Fluchtartig schnelle ich herum, haste zurück zur Tür und reiße an der Klinke. Sie öffnet sich nicht.
„Nein, bitte nicht! Nein!“ Ich hämmere gegen das Holz, rüttle an der Klinke und ziehe mit aller Kraft. Heiße Tränen rinnen über meine glühenden Wangen. „Lasst mich hier raus! Ich muss hier raus! Bitte!“ Ich schreie und sehe durch den Türspalt grelles, rotes Licht immer stärker werden. Meine Stimme lässt mein Stimmenlicht geradezu entflammen.
Ich trete gegen die Tür, will entfliehen und hämmere meine Fäuste in das Holz. Splitter schießen durch die dünne Haut in mein Fleisch. Der Schmerz lässt mich noch panischer werden. Ich drehe mich um und sehe in meine tausend Gesichter. Sehe mich.
Alle meine Fehler. Meine zu bleiche Haut, meine ungepflegten Haare, die Narben, meine hervorstehenden Hüftknochen, das hässliche Gesicht und die schwachen Augen. Ich hasse alles, was ich sehe.
„Verschwinde!“ Meine Hände greifen nach dem Spiegel direkt vor mir und ich schleudere ihn durch den Raum. Er prallt in das Glas zweier Wandspiegel und lässt sie zerbersten. Mein Gesicht zerfällt in tausend Stücke.
Ich trete auf das Bein des Spiegels, den ich gerade geworfen habe, und wende all meine Kraft auf, um es mit den Händen abzubrechen. Dann halte ich das Stück Holz wie einen Knüppel in den Händen. Ich renne auf meine verbleibenden Gesichter zu und schlage mit dem Holz auf sie ein. Spiegel zerbrechen, Scherben fliegen. Die Splitter zerreißen die Haut in meinem Gesicht, an meinen Händen, Beinen, Oberkörper. Ich trete in sie, als ich weiter durch den Raum wüte. Meine Füße hinterlassen Blutlachen.
Als das Stück Holz in meiner Hand endgültig zerbricht, schlage ich mit den Fäusten auf die Spiegelflächen ein. Ich will es nicht sehen.
Irgendwann liege ich in einem Scherbenmeer. Mein Körper ist eine Ruine. Ich habe mich zerstört.
Die Wut flacht ab, Genugtuung bleibt zurück.
Es ist weg.
Dann spüre ich die Schmerzen. Ich spüre, dass ich noch da bin.
Verzweiflung überkommt mich.
Ich versuche, zur Tür zu robben. Aufstehen ist plötzlich unmöglich. Meine Füße sind voller Glas und Blut. Meine zitternden, zerrissenen Hände schieben die Scherben vor mir zur Seite, doch ich kann mich nicht vorwärts ziehen. Durch den Türspalt fällt noch immer das rote Licht. Hilf mir.
Mein Kopf fällt nach vorn. Riesige Splitter in meinen Handflächen. Ich sehe sie an. Mein Blick wird trübe.
Sie scheinen sich zu bewegen. Ich blinzle. Blinzle noch einmal.
Die Scherben ziehen sich aus meinem Fleisch, das Blut strömt zurück in meine Wunden. Die Haut schließt sich.
Ich hebe den Kopf. Die Spiegelstücke setzen sich zusammen, die Rahmen stellen sich auf. Alles schwebt zurück an seinen Platz. Mein Körper stellt sich wieder auf die Füße. Alles ist wieder ganz. Als wäre die Zeit zurückgedreht worden.
Ich zwinge mich in den Spiegel direkt vor mir zu sehen. Große, rote Schrift prangt in seinem Zentrum:
NOCHMAL.
Um mich herum meine tausend Gesichter.
Ich. Bin. Hier.
4 Antworten auf „# 5 Tausend Gesichter“
ist schon etwas gruselig, aber man will auch wissen wie es weiter geht!
Wow…ich glaube dieser Part hat mich bis jetzt am meisten getroffen. Ich kann mich in das, was du hier schreibst so gut reinfühlen und habe jetzt echt einen Kloß im Hals, weil ich die Hauptperson so gut verstehen kann.
Wie kann man nur so intensiv schreiben? Respekt. Glückwunsch für deinen Einzug ins EBook von Sebastian Fitzek. Swen
Die Fünf wird mich niemals wieder loslassen. Das weiß ich tief in meinem Innern. Denn etwas habe ich nie abgelegt, meine Fluchtgedanken. Die Momente, wenn mir alles zu viel, zu eng wird, und sich unsichtbare Hände um meinen Hals legen. Ich habe es im Griff, meistens, aber die Gefühle sind da.