NOCHMAL. Ich starre entgeistert die rote Schrift an, bis sie schließlich verblasst und nur mein Spiegelbild zurückbleibt.
Meine Hände, in denen keine Splitter mehr stecken, meine Füße, die nicht mehr bluten, und mein Gesicht, dass keinen Kratzer mehr aufweist.
Das hier kann nicht real sein. Ich laufe zurück zur Tür, obwohl mir eigentlich schon klar ist, dass sie noch immer verschlossen sein wird. Die Türklinke bewegt sich, doch das Holz bleibt im Rahmen. Durch den Türspalt sehe ich das rote Stimmenlicht leuchten. Ich wünschte, du wärst bei mir.
Zu gern wüsste ich, was hier von mir verlangt wird. Was soll ich „nochmal“ tun? In den Spiegel sehen?
Ich wende mich ab und meine tausend Gesichter drehen mir direkt wieder den Magen um. Tief durchatmen.
Zuhause sehe ich fast nie in den Spiegel. Ich lege nicht viel Wert auf mein Äußeres und meine Augen verraten viel zu deutlich, was ich von mir selbst halte. Ich ertrage mich nicht. Und, wenn ich es nicht kann, wie soll es jemals jemand anderes tun?
Natürlich gibt es bessere und schlechtere Tage. Und es gab eine Zeit, in der ich ganz normal mit mir umgegangen bin. Was auch immer ‚normal‘ bedeutet…
Aber jetzt, nach allem, was passiert ist, kann ich es einfach nicht mehr. Wenn du all deine Energie und Kraft dafür aufwendest, vor dir selbst wegzulaufen, dann ist ein Spiegel wirklich das Letzte, das du gebrauchen kannst.
Bin ich genau deswegen hier?
Ich atme noch einmal tief durch. Diese vielen Spiegel überfordern mich. Ich kann einem Paar Augen kaum standhalten, wie dann meinen tausend Gesichtern?
Gezwungenermaßen bewege ich mich zurück in den Raum. Ich wähle den Spiegel aus, auf dem ich auch die rote Schrift gelesen habe, und lasse mich im Schneidersitz vor ihm nieder. Sofort durchflutet ein Schwall von Gefühlen meinen Magen.
Ich schäme mich, möchte weglaufen und bin unfassbar traurig und müde. Nur die Wut bleibt aus. Die habe ich ja bereits in mein Spiegelbild reingeprügelt.
Meine matten Augen fokussieren mich. Mein Gesicht ist unglaublich blass und meine Lippen sind aufgesprungen. Tiefe, blaugrüne Augenringe haben sich in die Haut gegraben. Zu wenig Wasser, zu viel Schlaf.
Meine Mundwinkel hängen herab und ich habe das Gefühl, dass keine Kraftanstrengung der Welt sie zum Lächeln bringen könnte. Wenn ich mit dem Gesicht näher an das Glas gehe, kann ich auf meiner Nase noch die Sommersprossen erahnen, die früher in der Hitze mein ganzes Gesicht geziert haben. Ich muss an das kleine Mädchen denken, dass mit nackten Füßen lachend in den Fluss gerannt ist. Wie ihre Haare geflogen sind. Ich habe so viel gelacht.
Meine Hand berührt die Wange meines Spiegelbilds.
„Es tut mir so leid.“
Während unsere Blicke sich treffen, klickt es hinter mir und rotes Licht fällt über den Boden des Ballsaals.
Die Tür ist offen.
3 Antworten auf „# 6 Spiegelbild“
WOW, das ist sehr ergreifend. Freue mich schon auf das nächste Kapitel.
Sehr intensiv und emotional, die Protagonistin scheint auf einer Reise zu sich selbst zu sein.
Ich bin immer wieder ergriffen. Am liebsten würde ich alle Teile direkt hintereinander lesen, aber ich habe einen Deal mit mir selbst. DANKE für deine Texte.