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# 11 Meer atmen

Neben der Tür ist ein kleiner Haken in den Stein geschlagen worden, an dem eine Winterhose und ein Mantel hängen. Darunter steht ein Paar Stiefel, aus dessen Öffnungen zwei dicke Vliessocken baumeln.
Ich fahre mit den Fingern die Ränder des Lochs in der Mauer nach, in dem der Haken steckt. War das ein Mensch?
Der Lügner beobachtet mich aus einigem Abstand. Ich spüre Kälte zwischen uns. Er konnte mit Zurückweisung noch nie umgehen. Sie wurde stets mit emotionaler Distanzierung und Liebesentzug bestraft.
Ich inspiziere die Schuhe und stelle fest, dass sie meiner Schuhgröße entsprechen. Froh darüber, endlich wieder mehr von meinem Körper bedecken zu können, schlüpfe ich zuerst in die Socken, streife dann die Schneehose über, lasse meine Arme in die Ärmel des Mantels gleiten und schnüre mir zuletzt die Stiefel zu.
Eine wohlige Wärme überzieht meine Haut und die Schneestürme meines Gegenübers können mich emotional nicht erreichen.
Ich bestimme.
Ohne ein Wort öffne ich die Tür vor mir. Nur meinem Stimmenlicht schenke ich zum Abschied ein Lächeln.

Bereits, als ich die Tür nur einen kleinen Spalt in meine Richtung bewege, bemerke ich eine Eiseskälte durch die Lücke kriechen, zu der sich der latente Geruch von Salz mischt.
Mein Herz schlägt sofort höher.
Als ich die Tür dann ganz aufdrücke, sehe ich etwas, das meine Seele umarmt: Dünen bis zum Horizont. Einen Himmel, über den sich ein tiefroter Sonnenuntergang erstreckt. Ich rieche und spüre die kalte Winterluft, die mir entgegenströmt und höre in der Ferne das Rauschen des Meeres.
Das Paradies.
Ich muss gar nicht darüber nachdenken, meine Füße laufen von selbst Richtung Horizont. Mir rutschen die Schuhsohlen auf dem Sand weg und mein Gesicht wird von der Kälte krebsrot, doch das stört mich nicht – ich höre das Meer.
Der Moment, in dem ich die Düne erklommen habe und gischtspritzende Wellen bis zum Ende der Welt mein Blickfeld ausfüllen, entschädigt für alles.
Ich atme. Ich spüre. Ich lächle.

Wie lange ich dort oben stehe und einfach nur dem Meer zusehe, kann ich nicht beziffern. Es kann niemals lang genug gewesen sein.
Trotzdem setze ich mich wieder in Bewegung und steige die Düne Richtung Ufer hinab. Umso näher ich dem Wasser komme, desto fester wird der Boden unter meinen Füßen.
Ich laufe, bis die Gischt der wilden Winterwellen die Spitzen meiner Stiefel erreicht. Der rote Feuerball am Himmel lässt das Meer fast rosa erscheinen und die Kronen der Wellen in seinem Licht glitzern.
Ich habe das Gefühl, nach Jahren endlich wieder atmen zu können, als sich mein Blick im unendlichen Blau verliert. Die salzige Luft umarmt mich, der Sand unter meinen Füßen trägt mich und das Rauschen des Meeres streicht mir zärtlich über mein Herz.
Moment, verweile doch, du bist so schön.

Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Ausatmen.

Ich. Bin. Hier.

Mein Körper wendet sich nach links, während meine Gedanken noch irgendwo draußen auf dem Meer treiben.
Ich laufe ein Stück und sehe den Möwen zu, die am Himmel ihre Kreise ziehen. Der Boden unter meinen Füßen wird steiniger und links von mir beginnt sich eine Steilküste emporzuziehen.
Die Sohlen meiner Stiefel sind dick und fest, sodass ich bequem weitergehen kann. Umso weiter ich laufe, desto größer werden die Gesteinsbrocken am Ufer. Ich lasse meinen Blick schweifen und werde nicht satt an der frischen Luft in meiner Lunge und dem Anblick, der sich mir bietet.
Dann bleibt mein Blick an einem sehr großen Felsbrocken hängen. Ich kneife die Augen zusammen und versuche sie mit der Hand von der tiefstehenden Sonne abzuschirmen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass auf diesem unförmigen Stein jemand sitzt. Jemand mit einer Lampe…

2 Antworten auf „# 11 Meer atmen“

Liebe Merle,
ich hatte vor längerer Zeit angefangen zu lesen. Es waren die ersten beiden Kapitel, die mir schon sehr gut gefallen hatten. Dann ließ ich es aber ein wenig schleifen, obwohl ich es immer im Hinterkopf hatte. Nun habe ich diese Woche Urlaub, und mir vorgenommen einige Dinge, zu denen ich sonst keine Zeit finde, zu tun. Dazu gehört auch dein Blog. Ich habe die restlichen Kapitel jetzt alle auf einmal gelesen, und ich bin begeistert. Zuerst von deinem Schreibstil, der mir sowieso gut gefällt, aber auch die Handlung selbst, die Spannung und die Traurigkeit deiner Geschichte haben gefesselt. Bildlich hast du es so gut beschrieben, dass ich bis jetzt alles förmlich vor meinem Auge gesehen habe, und das ist es, was eine gute Story ausmacht. Wenn man sich in ihr bewegt, mit ihr fühlt und sieht.
Ich bin sehr gespannt auf Kapitel 12. Mach weiter so, denn so ist es gut 😊
Liebe Grüße Carolin

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