„Du hast also geheiratet?“
Meine Frage zerschneidet die Stille, die uns seit einer gefühlten Ewigkeit auf unserem Weg durch den Tunnel umgibt.
Seine Gesichtsmuskulatur zuckt. Dasselbe Zucken war schon einmal Antwort auf meine Frage „Du hast eine Freundin?!“ in der Vergangenheit gewesen. Ich hatte es mal für widerstreitende Gefühle wie Reue, Schuld, Liebe und Verlustangst gehalten. Heute weiß ich, dass es nur die Wut eines ertappten Egos ist.
„Ja.“, sagt er mit belegter Stimme. „Seit einem Jahr.“
Ich nicke langsam, während mein Magen sich zusammenzieht. Warum tut es immer noch weh?
„Ihr habt euch also wieder versöhnt?“
Ich versuche ziemlich beiläufig zu klingen, was mir nicht gelingt.
Er schüttelt den Kopf. „Nein, es ist nicht Rebecca.“
Rebecca…
Ihr Name löst in mir eine Flut von Erinnerungen aus. Als wäre sie eine alte Freundin, doch die Wahrheit ist, dass wir uns niemals gesehen haben. Trotzdem verbrachte ich Stunden auf ihrem Facebook-Profil. Sah in ihr strahlendes Gesicht vor dem Panorama ihres Kleingartens, in dem sie gerne mit ihrem Freund eine Flasche Wein zum Sonnenuntergang köpfte.
Mit dem Freund, der sie mit mir betrog. Monatelang.
Wie oft hatte ich Nachrichten an sie verfasst und nie abgeschickt.
Dass ich nicht gewusst hatte, dass sie existiert. Dass ich die Beziehung sonst nie eingegangen wäre.
Dass er mir erzählt hatte, dass er beruflich viel unterwegs sei und an den Wochenenden häufig wichtige Kunden traf.
Dass er behauptete, dass seine Wohnung so klein und karg sei, weil er ja sowieso immer unterwegs wäre und sich irgendwann mit einer Partnerin ein richtiges Zuhause aufbauen wolle.
Dass ich die Wahrheit erst erfahren hatte, nachdem ich ihn auf einer Geschäftsreise besuchen wollte und in einer Hotellobby stand, in der niemand seinen Namen kannte.
Die Wahrheit, dass er mit seiner Freundin in einer 200 Kilometer entfernten Stadt lebte, aber zum Arbeiten unter der Woche in seiner Zweitwohnung in meiner Heimat unterkam. Und am Wochenende zu ihr fuhr, um im Kleingarten Wein zu trinken.
Lügner.
Ich hätte diese Nachricht abschicken sollen.
Ich hätte ihr Ehrlichkeit schenken sollen.
Gerne würde ich behaupten, dass ich damals nur zu feige war. Das ist aber nicht wahr.
Damals war ich noch anders als jetzt. Ich habe ihn zur Hölle geschickt, weil ich stolz war. Ich fand, ich wäre mehr wert als das.
Und ich hasse Lügen. Und ich hasste ihn.
Gleichzeitig besuchte ich mehrmals am Tag ihre Facebook-Profile. Sah nach, ob sie sich trennten oder versöhnten. Und hoffte innerlich noch immer, dass er sich für mich entscheiden würde. Trotzdem.
Ich hoffte, eine Nachricht oder einen Anruf zu bekommen, dass er mich vermisse und zurück wolle. Und das wollte ich nicht dadurch gefährden, dass ich Rebecca schrieb.
Ich redete mir ein, dass ich ihr nichts schuldig wäre, weil ich nicht von ihr gewusst hatte. Ich glaubte, dass sie sowieso nicht mit mir reden wollen würde.
Aber in Wahrheit war es purer Egoismus. Ich opferte meine eigenen Werte.
Anfänglich wollte ich ihn zurück, dann wollte ich nur noch, dass er mich zurück wollen würde, damit ich ihn abservieren könnte. Und dann irgendwann war es mir egal.
Es war mir egal, was er nun tat, dachte, wen er liebte und mit wem er schlief. Ich war fertig damit.
Was aber blieb, war die Lüge. Die monatelange Lüge eines Menschen, dem ich mehr vertraute als mir selbst. Dem ich so viel von mir preisgegeben hatte.
Und von da an sah ich überall nur noch Lügen. Es blieb das Gefühl, dass ich niemandem vertrauen konnte.
Und ich frage mich, ob dass der Anfang von allem war. Von allem, was danach kam und mich letztendlich heulend am Boden enden ließ. Was mich hier enden ließ.
Erst in diesem Moment wird mir klar, dass ich den Lügner neben mir bisher noch absolut keine Frage zu diesem Tunnel gestellt hatte. Emotionen sind schlecht fürs Hirn.
Als ich gerade den Mund öffne, um einen Haufen Fragen auf ihn niederprasseln zu lassen, bleibt er abrupt stehen und deutet auf die Tunnelwand rechts von uns. In der Mauer befindet sich eine weitere rote Tür.
Eine Antwort auf „# 8 Lügner“
Und plötzlich ist er da, der Lügner.
Und dein Stil verändert sich.
Von einer „Tunnelhölle“ in die nächste. Da steht er. Mit dem Ring am Finger. Und da steht sie. Mit ihrer Erinnerung.
Ihrem Schmerz.
Durch die Dialoge bekommt der „Tunnel-“ Text nun eine ganz andere Dynamik.
Ich lese weiter.
Und ich genieße es.
Swen